„Kurz gesagt: Durch Gott sehe (und erkenne) ich Gott.”
Dr. Javad Nurbakhsh, 10.12.1926 – 10.10.2008
Dr. Javad Nurbakhsh, Meister des Nimatullahi Sufiordens, ist am Freitag, dem 10. Oktober 2008, von uns gegangen.
Nachdem er Teheran im Jahre 1979 verlassen hatte und durch weite Teile der Vereinigten Staaten gereist war, ließ er sich im Jahre 1986 in England nieder. Er kehrte nie wieder in den Iran zurück, wo der Orden weiterhin wächst und gedeiht trotz der Versuche von offizieller Seite, die Existenz und den Geist des persischen Sufismus zu negieren.
Er selbst war ein lebendes Beispiel des Sufismus, indem er der Menschheit in Demut und Liebe diente. Zusätzlich zu seiner Aufgabe als Meister des Sufiordens war er Pionier in der Etablierung und Weiterentwicklung moderner psychiatrischer Methoden und Hilfsmittel in seinem Geburtsland, dem Iran.
Dr. Nurbakhsh wurde am 10. Dezember 1926 in Kerman geboren, das von den Sufis liebevoll die „Hauptstadt der spirituellen Armut (faqr)” genannt wird. Shah Nimatullah, Gründer und Namensträger des Ordens, nannte Kerman das „Herz des Universums“. Nurbakhsh stammt von Sheykh Kamal ad-Din Nurbakhsh ab, einem der bedeutendsten Sheykhs des Nurbakhshi-Sufiordens, über dessen Grabstätte das heutige Sufihaus in Kerman errichtet wurde.
Nach einem außerordentlichen Leben in jungen Jahren begann er seine berufliche Karriere als Arzt im Alter von 26 Jahren und wurde Leiter des Krankenhauses im südöstlichen Teil von Bam im Iran. Ein Jahr später, 1953, trat er die offizielle Nachfolge seines Meisters Mo’nes ‘Ali Shah Zo’r-Riyasateyn als Oberhaupt des Nimatullahi Sufiordens an. Sein Titel war Nur `Ali Shah.
Eine Zeit lang diente er so den Einwohnern von Bam und wurde dann schließlich nach Teheran versetzt, wo er im kleinen Sufihaus nahe des Shahpur Platzes residierte. Von dort aus wurde der Sufismus im Iran wiederbelebt und er zog westliche Suchende und Gelehrte aus der ganzen Welt an.
Durch seine unerschöpfliche Energie initiierte Dr. Nurbakhsh die größte Renaissance des Nimatullahi Sufiordens seit seiner Begründung durch Shah Nimatullah Wali im 15. Jahrhundert.
Seine Lehren haben eine riesige Anzahl von Anhängern jeglicher ethnischer Herkunft, Gesinnung, Glaubensrichtung und Nationalität zu liebevoller Güte und dem Dienst an der Menschheit im Namen des Sufismus inspiriert.
Dr. Nurbakhsh unterschied Menschen niemals nach ihrer gesellschaftlichen Funktion oder ihrem Rang, sondern behandelte alle gleich mit Liebe. So zog er eine große Gesellschaft angesehener Persönlichkeiten aus der ganzen Welt an, die seine Freunde wurden und mit ihm in regelmäßigem Austausch standen. Darunter befanden sich berühmte iranische Gelehrte und Philosoph Professor Seyyed Hessein Nasr, die renommierte deutsche Gelehrte Dr. Annemarie Schimmel, der schweizer Akademiker Dr. Hermann Landolt, der bedeutende französische Gelehrte der iranischen und islamischen Philosophie Henry Corbin, der japanische Zen-Buddhist und Philosoph Dr. Toshihiko Izutsu, die amerikanischen und islamischen Sufi-Gelehrten Prof. Carl Ernst, William Chittick und James Morris, sowie der amerikanische Dichter Robert Bly und auch der russische Gelehrte Prof. I. M. Steblin-Kamensky.
Er wurde Freund und Mentor verschiedener westlicher Diplomaten in Teheran – im Besonderen mit Sir Peter Ramsbotham aus Großbritannien und James George aus Kanada. Er pflegte außerdem herzliche Beziehungen mit einer Reihe weiterer spiritueller Lehrer, wie z.B. Mme. de Salzman, Leiterin der damaligen Gurdjieff-Bewegung, Dr. Ganjavian, Meister des Zahabi-Sufiordens im Iran, und mit spirituellen Führern des Ahl-Haqq- und Qadiri- Sufiordens im iranischen Kurdistan.
Nachdem er seinen Abschluss in Psychiatrie an der Sorbonne erhalten hatte, wurde er zum Professor der Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Universität von Teheran berufen. Folgende weitere Positionen behielt er bis zu seiner Pensionierung bei: Leiter des medizinischen Rates des Iran, Präsident der iranischen Vereinigung von Psychiatern, Leiter der psychiatrischen Klinik Ruzbeh und Ehrenmitglied der Amerikanischen Vereinigung von Psychiatern.
Als Autor, Herausgeber und Übersetzer veröffentlichte er 37 wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Psychiatrie. Außerdem schrieb er viele Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften und ein Kompendium von Lehrschriften für Wissenschaftler, Professoren und Studenten.
Während seines gesamten Lebens schrieb Dr. Nurbakhsh ausgiebig über die iranische Gnosis und den islamischen Sufismus. Neben der Veröffentlichung seiner erfolgreichen Schriften über die Biographien der Meister des Pfades und die Grundsätze des Nimatullahi Sufiordens finanzierte er auch zahlreiche internationale Kongresse und Seminare, deren Vorträge in drei Bänden auf Englisch zusammen gefasst wurden.
Er war für seinen “erstaunlichen Fleiß“ – so der berühmte Gelehrte Henry Corbin – in der Veröffentlichung klassischer Texte des Sufismus bekannt. 1979, als er freiwillig ins Exil in den Westen ging, hatte er bereits mehr als 80 Bücher publiziert. Neben seinen eigenen Werken, die in Prosa und Poesie verfasst sind, überarbeitete und veröffentlichte Dr. Nurbakhsh den Divan und die gesammelten Werke (Ende der Siebziger Jahre in 4 Bänden) des Shah Nimatullah und viele weitere wichtige Werke der Nimatullahi Meister des 19. Jahrhunderts, darunter gesammelte Werke von Nur `Ali Shah und Werke von Mast ‘Ali Shah, Muzaffar ‘Ali Shah, Majdhub ‘Ali Shah, Rawnaq ‘Ali Shah, Mushtaq ‘Ali Shah und Sadr al-Mamalik Ardabili. Er hat auch kritische Editionen der Abhandlungen und poetischen Schriften von klassischen persischen Sufi-Autoren, wie Ansari, Ahmad Ghazali, Ruzbihan Baqli, ‘Iraqi und Shabistari, bearbeitet und veröffentlicht.
Nachdem sich der Nimatullahi Orden Anfang der siebziger Jahre im Westen verbreitet hatte, übersetzte und veröffentlichte der Verlag „Khaniqahi Ni`matullahi Publications“ in den USA Teile der Arbeiten von Dr. Nurbakhsh: allen voran folgende Titel:
- Sufi Women“ (4. Auflage, New York, übersetzt ins Spanische, Französische, Italienische und ins Deutsche)
- „Jesus in the Eyes of the Sufis“ (London 1983, 2. Auflage, übersetzt ins Spanische, Italienische und ins Deutsche)
- „Spiritual Poverty in Sufism“ (London 1984, übersetzt ins Französische, Italienische und ins Deutsche)
- „The Great Satan, ‘Eblis’“ (London 1986, übersetzt ins Italienische und ins Deutsche)
- „The Psychology of Sufism“ (London, 1992, übersetzt ins Spanische, Italienische, Russische und ins Deutsche)
- Dr. Nurbakhshs zweibändige Sammlung von Hadithen (prophetische Überlieferungen), die von Sufis benutzt werden (dreisprachig mit arabischem, persischem und englischem Text)
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sein fünfbändiges Werk „The Gnosis of the Sufis“ („Ma`rifa-i Sufiyya“)
- sein sechzehnbändiges Werk über die Begrifflichkeiten im Sufismus mit dem Titel „Sufi Symbolism“ („Farhang-i Nurbakhsh“). Dieses ist sein bedeutendster Beitrag für die Forschungen des islamischen Sufismus im Westen.
Seine Werke wurden vom persischen Original ins Englische, Spanische, Russische, Französische, Niederländische, Schwedische und Polnische übersetzt. Außerdem war er Herausgeber einer Quartalszeitschrift mit Artikeln, Features, Erzählungen und poetischen Texten über Sufismus und verwandter spiritueller Wege. Im bereits 20. Jahr erscheint die Zeitschrift in persischer, englischer, französischer, spanischer und russischer Sprache.
Bis zum Jahr 1976 eröffnete er 70 Sufi-Zentren in vielen Groß- und Kleinstädten des Iran als gemeinnützige Einrichtungen im Rahmen des bürgerlichen und islamischen Rechts. Eine große Anzahl davon sind seitdem durch das vorherrschende Regime enteignet und aufgelöst worden.
Seit seinem Umzug in den Westen 1979 eröffnete Dr. Nurbakhsh 35 florierende Sufi-Zentren auf der ganzen Welt: in Europa (in England, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Spanien, Schweden und Österreich), Russland, Nordamerika (den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko), Australien und in Westafrika (Elfenbeinküste, Mali, Benin, Burkina Faso und Senegal). Alle wurden als unabhängige Stiftungen, die den jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen der Länder entsprechen, gegründet.
Dr. Nurbakhsh hat große Fortschritte in der Psychiatrie in seinem Heimatland Iran bewirkt. Verbesserungen im Ruzbeh Krankenhaus machten diese Einrichtung zu einem der Führenden im Gebiet der praktischen Psychiatrie. Das Ruzbeh Krankenhaus wurde dadurch zur ersten modernen psychiatrischen Klinik in Teheran. Unter seiner Leitung unterstützte der Orden verschiedene gemeinnützige Einrichtungen im Iran ebenso wie zwei Waisenhäuser in Mexiko sowohl finanziell als auch fachlich. Außerdem gründete und leitete der Orden zwei Kliniken in Westafrika (in Abjadan/Elfenbeinküste und in Porto Novo/Benin).
Die Nimatullahi Sufihäuser überall auf der Erde spiegeln die unermessliche Weite seines Geistes wider und dienen nicht nur der Förderung der Ideale des Sufiweges, sondern auch der persischen Sprache, Literatur, Poesie und der mystischen Werke, die durch die Kultur, Musik und Kunst des Irans gefeiert werden.
Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit mit gewaltigem Charisma, einem ständigen mitreißenden Lachen, ein Meister in der Kunst der Gesprächsführung und dem Gebrauch von Humor als pädagogisches Mittel. In einem Ghasel (lyrische Gedichtform, Anm. des Übersetzers) in seinem wundervollen Diwan ekstatischer persischer Sufi Poesie heißt es:
„Die Welt war wie ein Traum für dich, Nurbakhsh.
Und alle Menschen in ihr verzaubert und gebrochenen Herzens.“
Dr. Nurbakhsh ist in seinem Landsitz in England nahe der Stadt Banbury (Oxfordshire), wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, verschieden und begraben worden. Er lässt seine Frau Mrs. Parvaneh Daneshvar Nurbakhsh, drei Söhne und zwei Töchter zurück.
Nachfolger wurde sein Sohn Dr. Alireza Nurbakhsh, Doktor der Philosophie der Universität Wisconsin und praktizierender Rechtsanwalt in London. Dr. Alireza Nurbakhsh trägt den Sufinamen Reza `Ali Shah.
„Nur durch die Liebe gelangte ich an einen Ort,
Wo keine Spur von Liebe bleibt,
Wo Ich und Wir und die Bilder der Existenz
Allesamt vergessen und zurückgelassen wurden.“
– Dr. Javad Nurbakhsh –